Ist Achtsamkeit die Lösung? Und was ist das eigentlich?

Ich lese zur Zeit gerade zwei psychologische Fach-Bücher die unterschiedlicher nicht sein können.

Ich schau Dir ins Gehirn

Da ist zum Einen das Buch: „Das glückliche Gehirn: Ängste, Aggressionen und Depressionen überwinden – So nehmen Sie Einfluss auf die Gesundheit Ihres Gehirns“ von Daniel G. Amen. Amen war Ende der 90er Jahre einer derjenigen Neuro-Wissenschaftler, die mit den neuen Gehirnscannern den Menschen beim Denken zusehen konnten. Dabei wird das Gehirn in 3D gescannt und die Bereiche mit hoher Sauerstoffkonzentration (= viel Denkaktivität) werden sichtbar. Amen beschäftigt sich mit den Themen Depression, Angst und Impulsivität und wie sich das im Gehirn sichtbar niederschlägt. Und so schildert das Buch dann die bekannten Symptome und ohne immer wiederkehrend stellte er dann anhand des Gehirnscans eine fehlende Aktivität bzw. eine Überaktivität in bestimmten Bereichen fest.

Und was bringt das? Wir können mittlerweile jede Menge dieser unerwünschten Gehirnreaktionen messen. Mit diesen teuren Geräten kann man also belegen, dass etwas im Kopf anders läuft als bei anderen. Man bekommt also eine Erklärung für sein Verhalten.

Das Kind in uns wird verletzt

Und zum Anderen lese ich das Buch „Entwicklungstrauma heilen: Alte Überlebensstrategien lösen – Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken – Das Neuroaffektive Beziehungsmodell zur Traumaheilung NARM“ von Laurence Heller und Aline LaPierre. Heller definiert 5 Grundbedürfnisse: Kontakt, Einstimmung, Vertrauen, Autonomie und Liebe. Wenn diese Bedürfnisse nicht ausreichend befriedigt werden, dann baut sich der Klient eine (vorhersagbare) Überlebensstrategie. Solche Modelle sind nicht neu.  Klaus Grawe hat in seinem Buch „Neuropsychotherapie“ 4 solcher Grundbedürfnisse beschrieben. Tatsächlich sind wir in Kindheit und Jugend am verletzbarsten. Wir können uns ja kaum wehren. Zurückweisungen, überfordernde Ansprüche und viele andere Anforderungen der Erwachsenenwelt können in dieser Zeit einschneidende Prägungen im eigenen Verhalten erzeugen.

Und was bringt das? Wer seine Kindheit negativ in Erinnerung hat, der findet in dem Heller-Buch Muster aus denen er sein heutiges Verhalten besser erklären kann. Das verletzte Kind in uns sucht mit bestimmten Strategien diese Erfahrungen aus der Kindheit zu verdauen. Und diese Überlebensstrategie aus der Kindheit und Jugend macht es uns dann im späteren Leben schwer im Zusammenspiel mit den Freunden und Kollegen zu agieren.

Zwei unterschiedliche Ansätze der Erklärung und eine Lösung

Man möge mir meine unwissenschaftliche Betrachtungsweise verzeihen: Beide Methoden (wie auch viele andere Methoden) basieren auf dem Konzept Erkennen – Verstehen – Abändern. Wobei die Ansätze des Erkennens und Verstehens kaum unterschiedlicher sein könnten. Wenn wir eine Erklärung haben, dann haben wir den Einstieg zur Lösung gefunden. Das Buch von Heller empfiehlt auch medikamentöse Behandlungen. Da ich selbst als Coach arbeite (und nicht als Psychotherapeut) ist mir die Abgrenzung wichtig. Richtiggehende Erkrankungen gehören in die medizinische Abteilung. Und da sind Medikamente, die den Wirkstoff-Cocktail im Kopf erst mal radikal verändern womöglich notwendig.

Aber zwischen Gesundheit und Krankheit gibt es keine Schwarz/Weiss-Beziehung – der Übergang ist fliessend. Viele dieser Symptome können, wenn sie frühzeitig erkannt werden auch durch eigene Kraft oder mit der Unterstützung eines Coachs behandelt werden. Ein wichtiges Element im (Selbst-)Coaching ist das Thema Achtsamkeit.

Achtsamkeit

Achtsamkeit (engl. mindfulness) kann als Form der Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit einem besonderen Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand verstanden werden, als spezielle Persönlichkeitseigenschaft sowie als Methode zur Verminderung von Leiden (im weitesten Sinne). Historisch betrachtet ist „Achtsamkeit“ vor allem in der buddhistischen Lehre und Meditationspraxis zu finden. Im westlichen Kulturkreis ist das Üben von „Achtsamkeit“ insbesondere durch den Einsatz im Rahmen verschiedener Psychotherapiemethoden bekannt geworden.

 


Das Zitat entstammt Wikipedia. Achtsamkeit kann man als formale Praxis üben. Ich habe an anderer Stelle die Übungen von Jon Kabat-Zinn „Achtsamkeit und Meditation im täglichen Leben“ mit 2 CDs, die von Heike Born sehr einfühlsam gesprochen werden, schon mal empfohlen und will das gerne noch einmal hier tun.

Und Achtsamkeit lässt sich sehr leicht ausprobieren:

Suchen Sie sich eine Uhr mit Sekundenangaben. Nehmen Sie eine entspannte Haltung ein und merken sich die Zeit. Dann atmen Sie viermal langsam und so tief wie es gerade noch angenehm ist ein – halten den Sie Atem 1-2 Sekunden, atmen dann langsam aus und verharren am Ende auch 1-2 Sekunden. Schauen Sie am Ende auf die Uhr. Planen Sie weitere Unterbrechungen im Tag ein (mittels einer Weckfunktion). Und finden Sie heraus, welches die beste Dauer für die vier Atemzüge ist.

Und was hat das mit Depression, Angst oder Impulsivität zu tun?

Eigentlich sind unsere Gehirne alle gleich: ein paar zig Millionen Gehirnzellen kommunizieren über ihre Verbindungen mit anderen Gehirnzellen und das Ganze ist eingebettet in einen Cocktail von Botenstoffen. Warum sind wir dann so unterschiedlich? Warum regt den Einen etwas auf und der Andere bleibt gelassen?

Manches mag uns schon in die Wiege gelegt worden sein (die Gene). Aber vieles machen wir unterschiedlich, weil wir unterschiedliche Erfahrungen machen von dem ersten Moment unserer Entstehung an. Und so werden wir anders: Der Eine hat eine behütete Kindheit – muss sich um wenig Dinge selbst kümmern – das ist zwar nett von den Eltern und schön für das Kind. Aber am Ende muss sich der Mensch beweisen. Umgekehrt wissen wir, dass in Familien, in denen Gewalt herscht eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Nachwuchs zu ähnlichen Mitteln greift.

Es geht dabei auch nicht darum zu bewerten, was besser ist. Auch das Vorsichtige hat seinen Wert. Wer schon mal beobachtet hat, wie Psychopharmaka beispielsweise bei Depressionen wirken, der ahnt vielleicht was ich meine. Diese Medizin lindert die Depression. Aber plötzlich schwebt man auf Wolke 7 und alles ist doch so egal. Man ist dann nicht mehr derselbe Mensch. Die zuweilen mal depressive Stimmung hat eben auch einen Sekundärgewinn (beispielsweise als Schutzfunktion vor übermütigen Handeln).

Achtsamkeit ist ein etwas mühsamerer Weg  als die medikamentöse Behandlung. Aber sie macht auch nicht abhängig und man bleibt Herr seiner selbst. Denn wenn wir verstanden haben, dass wir unser Gehirn ja unbewußt in einer pessimistischen Denkweise trainieren in dem wir eben viel zu häufig denken: „Das geht schief.“ – dann können wir auch aktiv zur einer anderen Programmierung übergehen. Aber Vorsicht: „Denk doch einfach nicht immer so negativ!“ ist keine sehr kluge Anweisung

Eine der einfachsten Übungen habe ich schon mehrfach beschrieben:

  • Nehmen Sie sich jeden Abend vor dem Schlafen ein paar Minuten Zeit um sich drei schöne Momente des Tages ins Gedächtnis zu rufen.
  • Beschreiben Sie diese kurz in schriftlicher Form
  • Beschreiben Sie dann ihren Anteil an diesen Begebenheiten

Diese Übung ist so simpel, dass manche meiner Klienten sie gar nicht oder sehr halbherzig machen. Einige berichten mir dann, es gäbe keine schönen Momente (die Klienten, die das Ernst meinen gehören sicher auf eine ernsthafte Depression als Erkrankung untersucht, was ich dann auch massiv einfordere). Ansonsten sollte diese Übung einfach sein. Manchmal schafft man es nicht bei den ersten Malen drei Momente zu finden – aber einen oder zwei findet man immer.  Und wer Schwierigkeiten hat sich abends an diese Momente zu erinnern, der beginnt plötzlich schon während des Tages den Moment wahrzunehmen („Das paßt für heute Abend in der Tagesreflexion!“)

Und so hat man mit dieser einfachen Übung seine Achtsamkeit für das Positive am Tag erhöht. Jetzt wird auch klar, warum man das unbedingt aufschreiben soll (und nicht einfach nochmal durchdenken). Schreiben bleibt länger haften. Und deshalb auch am Abend kurz vor dem Schlafen. Wer das schafft, der schläft mit ganz anderen Gedanken ein als vorher.  Wer das Ganze nochmal als Programm nachlesen und machen möchte kann das hier tun (nur für registrierte User).

Achtsamkeit ist also ein sehr weitgefasster Begriff. Es geht im Wesentlichen aber immer darum, die bestehenden Einschränkungen stärker bewußt wahrzunehmen oder bewußte Veränderungen durch genaue Beobachtung zu begleiten. Wichtiges Element ist dabei Unangenehmes wahrzunehmen – aber nicht zu bewerten. Und Positives in einer Art Dankbarkeit zu schätzen. Das klingt alles ein wenig esoterisch. Achtsamkeit verändert das Gehirn nachhaltig. Das haben viele Studien gezeigt. Menschen, die bewußter und achtsamer mit sich und seinem Umfeld umgehen haben weniger Stress, Angst und Aggression – sie leben entspannter und zufriedener.