Das EGO-Phänomen

Was macht uns eigentlich aus? Während ich das hier schreibe, steht neben mir ein Glas Wasser. Und plötzlich habe ich das Glas in der Hand und trinke. Warum? War bin ich nicht gerade beim Schreiben? Wer hat mich denn da gerade dazu überredet etwas zu trinken? Ich selbst? Oder gibt es da noch etwas, das mich steuert. Wie souverän ist mein Selbst? Und was können wir daraus konkrete Schritte für uns ableiten.

Das Libet-Experiment

Ein viel beachtetes Experiment lässt uns den Glauben an unseren freien Willen anzweifeln. Die Probanden sollten lediglich den Finger heben und sich dabei merken, wann sie diesen Gedanken bewusst gedacht haben. Für diese Zeitmessung hatten sie eine rotierende Drehscheibe vor sich, auf der ein Punkt markiert war. Es geht nämlich um Vorgänge im Millisekunden-Bereich. Zusätzlich wurde bei den Probanden mit einer Sonde der Bereich im Gehirn gemessen, wo der Finger codiert ist, wo also der Muskel seine Anweisung bekommt zum Heben.

Etwa 300 Millisekunden bevor sich der Finger hob lag der Zeitpunkt, den die Probanden als willentlichen Gedanken angaben. Soweit so gut. Aber schon weitere 300 Millisekunden davor, gab es bereits das Signal an den Fingermuskel, der über die Sonde gemessen wurde. Es scheint so zu sein, dass unsere bewusste Wahrnehmung erst im Nachhinein verständigt wurde, gerade noch bevor der Finger sich hob. Wer hat denn nun den Finger gehoben? Um das zu Verstehen, muss man einen Blick in das Gehirn und seine evolutionäre Entwicklung machen.

Unser Gehirn

Der größte Unterschied zwischen Menschen und Tieren ist unser Gehirn. Allerdings ist es nicht die Größe – es gibt Tiere, die deutlich mehr als die ca. 1,3-1,4 kg des Menschen an Gehirnmasse haben. Man muss beim Gehirn schon etwas ins Detail gehen. Die Wissenschaft teilt das Gehirn in unterschiedliche Bereiche ein. Diese Teile des Gehirns sind bei den anderen Säugetieren zwar auch vorhanden, aber nicht bei jeden alle und nicht alle in gleicher Ausprägung.

Auffällig beim Menschen ist der Teil, der sich wie eine Badekappe über den vorderen, oberen Bereich des Gehirns legt. Dieser präfrontale Cortex (PFC) ist sehr spät in der Evolution entstanden. Einige unserer nächsten Artverwandten haben so etwas auch – aber nicht so ausgeprägt, wie beim Menschen. Er macht etwa 1/3 unser Gehirnmasse aus – bei unsere nächsten Verwandten ist es gerade mal 1/6. In diesem PFC hat die Wissenschaft vor allem viele verstandesmäßige Verarbeitungen lokalisiert, auch die Reflexion, also die Fähigkeit, über uns und unser Denken und Handeln nochmal nachzudenken.

Das Phänomen ICH

„Cogito ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ hat René Descartes als sein philosophisches Fundament errichtet. Ich denke, ich handele nach diesen Gedanken und bin deshalb eine eigenständige Einheit. Der ICH-Mensch war geboren. Diese Philosophie ist nicht unumstritten. Im Buddhismus spricht man von diesem ICH eher als eine Anhaftung. Thomas Metzinger beschreibt in seinem Buch Der Ego-Tunnel: Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik die Vorgänge in unserem Gehirn ganz anders. Danach konkurrieren verschiedene Handlungsideen im Kopf. Während ich schreibe fällt mein Blick auf das Glas Wasser und schon trinke ich einen Schluck oder auch nicht. Wer hat das entschieden? Frage ich mich das bewusst, dann wird mir mein Bewusstsein rückmelden, das ICH das war. In Wirklichkeit haben womöglich mehrere Handlungsalternativen im Kopf rumgespukt. Um das Glas Wasser zu trinken, muss unser Gehirn erst mal simulieren, wie das geht. Gleichzeitig simuliert es auch wie ich weiterschreibe und, weil das Telefon auch in der Nähe liegt, fällt mir auch der Anruf ein, den ich tätigen wollte. Und so wabern parallel verschiedene Handlungssimulationen in unserem Unterbewusstsein. Und eine dieser alternativen Handlungssimulation gewinnt.

Haben Sie sich schon mal beim Trinken verschluckt oder das Getränk verschüttet, weil man schon wieder mit was Anderem beschäftigt war? Wer sorgt eigentlich dafür, dass ICH ständig zwischen den verschiedenen Ideen und Sinnesreizen hin- und hergerissen bin? ICH? Und wenn wir etwas gemacht haben, dass wir nicht (in seiner Auswirkung) wollten? Wer war das dann? „Der Andere hat mich so provoziert, dass ich zuschlagen musste.“ So etwas höre ich als Schöffe ständig.Thomas Metzinger spricht deshalb von einem EGO-Tunnel, in dem wir als Individuum leben und in dem Glauben agieren, dass wir alles was wir machen selbst bestimmen und natürlich auch verantworten. Was aber, wenn in Wirklichkeit jede Menge alternative Handlungssimulationen ständig in uns evaluiert werden und quasi in einem uns verborgenen Vorgang dann als Handlung nach außen dringen? Sind wir dann noch frei in unserem Willen und in unseren Entscheidungen?

Emotionen und freier Wille

Ganz sicher machen wir uns den nächsten Schritt oder die nächste Handbewegung nicht bewusst. Der Automatismus in uns lässt uns die gelernten Muster perfekt abspulen. Dabei benötigen wir das Bewusstsein nicht. Und das ist gut so. Dazu passt der Tausendfüßler-Witz: Die Grille fragt den Tausendfüßler, mit welchem Fuß er beginnt und schon beim bersten bewussten Nachdenken kommt der Tausendfüßler ins Straucheln.

Unser Bewusstsein ist kostbar. Es wird immer dann benötigt, wenn Entscheidungen anstehen oder neue Situationen entstehen, auf die unsere gelernten Muster nicht passen. Deshalb ist das Bewusstsein im Dialog hellwach – oder man ist Politiker und beantwortet nicht die Frage, sondern spult seinen Populismus ab.

Aber zurück zur Frage: wenn viele meiner Entscheidungen, durch ein internes, unterbewusstes Angebot- und Nachfrage-Spiel entschieden wird, wo bleibt denn da der freie Wille? An dieser Stelle bringe ich nochmal den Namen für mein Coaching ins Spiel: EVAPrinzip – in meiner Auslegung: Erkennen – Verstehen – Abändern. 

„Wer A sagt muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, das A falsch war.“  (Bert Brecht – Der Jasager und der Neinsager) 

Wehret den Anfängen    

Viele Therapien (Verhaltenstherapie, kognitive VT, Schematherapie, etc.) leben von der Erkenntnis, dass wir ein starkes Bewusstsein haben und damit unser Handeln und die Folgen unseres Handelns abschätzen können. Deshalb ist es trotzdem schwierig, die inneren Prozesse zu unterbrechen, man denke jetzt während der Fastenzeit nur an das Thema Diät oder grundsätzlich an das Thema „Gesunde Ernährung“. Natürlich ist es schwer sich gegen Gewohnheiten durchzusetzen. Coaching kann hierbei unterstützen und dem Klienten helfen neue Ziele stabil zu verfestigen. Eine kleine Warnung möchte ich noch dazu geben: nicht alles ist über den reinen Willen selbst noch zu steuern. Als Beispiel nenne ich hier die klinische Depression – hier liegt eine therapie-pflichtige Erkrankung vor. Allerdings ist der Übergang von Niedergeschlagenheit zu Traurigkeit und zu einer tiefen Depression fließend. 

„Wäre ich nur eher zu Ihnen gekommen“ – ein Satz, den ich viel zu oft höre. Bei frühzeitigem Erkennen reichen oft wenige Coachingssitzungen. Langes Aussitzen macht die Situation oft verfahren und dann wird es schwieriger alle Fäden auseinander zu bekommen. Eine bewusste Entscheidung kann sein: ich brauche Unterstützung.

Und am Schluss noch ein Tipp: man kann sein (Selbst-)Bewusstsein trainieren und stärken. Eine Übung habe ich bereits mehrfach beschrieben: Steigerung der Zufriedenheit und natürlich ist Meditation immer eine gue Emfehlung um zur Ruhe zu kommen und das Bewusstsein zu schärfen.